Friedensnobelpreis 1958: Dominique Georges Pire

Friedensnobelpreis 1958: Dominique Georges Pire
Friedensnobelpreis 1958: Dominique Georges Pire
 
Mit der Auszeichnung des belgischen Dominikaners wurde dessen jahrzehntelanger Einsatz für bedürftige Menschen in aller Welt, insbesondere für im Zweiten Weltkrieg Entwurzelte, gewürdigt.
 
 
Dominique (ab 1934) Georges Charles Clement Ghislain Pire, * Dinant (Belgien) 10. 2. 1910, ✝ Löwen (Belgien) 30. 1. 1969; ab 1928 Dominikaner in La Sarte (Gemeinde Huy), 1934 Priesterweihe, 1940-45 Seelsorger und Aktivist der belgischen Widerstandsbewegung, 1949 Gründer der Hilfsorganisation L'Aide aux personnes déplacées (Hilfe für heimatlose Ausländer), 1956 Initiator der »Europadörfer«.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Der Zweite Weltkrieg forderte nicht nur Millionen von Toten und Verwundeten, sondern hinterließ auch Millionen von Flüchtlingen, Vertriebenen und Zwangsverschleppten. Schon während der ersten Kriegsjahre mussten zahllose Menschen ihre Heimat verlassen oder wurden als so genannte »Fremdarbeiter« deportiert. Seit 1944/45 kamen noch einmal mindestens zwölf Millionen Vertriebene hinzu. Viele mussten Monate und Jahre in überfüllten Lagern verbringen. Noch 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, zählte man in Mitteleuropa rund 300 000 Flüchtlinge, davon etwa ein Viertel in Lagern.
 
Verschiedene internationale Organisationen leisteten in dieser Zeit Hilfe. An erster Stelle die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), die Internationale Flüchtlingsorganisation und ab 1951 der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR). Allein die UNRRA betreute in der Nachkriegszeit mehr als 13 Millionen Kriegsgefangene und Zwangsverschleppte, fast die Hälfte konnte in den ersten beiden Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehren.
 
Mit solchen Zahlen können die vom Friedensnobelpreisträger des Jahres 1958 gegründeten Organisationen und Institutionen nicht aufwarten. Ihre bescheidenen Mittel reichten allenfalls für einige tausend hilfsbedürftige Menschen, und ihre Hilfsarbeit spielte sich darüber hinaus weitgehend im Stillen ab. Als das Osloer Nobelpreiskomitee im November 1958 den Preisträger seiner Wahl nannte, herrschte deshalb bei Medienvertretern zunächst große Ratlosigkeit.
 
 Hilfe für den »harten Kern«
 
Zu den von Flucht, Vertreibung und Deportation betroffenen Menschen gehörten nicht wenige, die durch die Kriegsereignisse völlig entwurzelt worden waren und nicht in ihre Heimat zurückkehren wollten oder konnten. Andererseits waren sie aber auch nicht in der Lage, sich dort, wohin es sie verschlagen hatte, eine neue Existenz aufzubauen. Zu ihnen gehörten in erster Linie Zwangsarbeiter, denen in den Herkunftsländern Strafen wegen angeblicher Kollaboration mit dem nationalsozialistischen System drohten, und Flüchtlinge, die alt und krank waren oder einfach von der einheimischen Bevölkerung als Fremde abgelehnt wurden. Diesem »harten Kern« der »displaced persons« oder »DPs«, wie man sie im Fachjargon der Hilfsorganisationen nannte, widmete Dominique Georges Pire den größten Teil seiner humanitären Arbeit.
 
Der Dominikanerpater hatte im Sinn christlicher Nächstenliebe zwar im Umkreis des Klosters La Sarte schon früh Hilfe geleistet, etwa für belgische und französische Flüchtlingskinder oder sozial schwache Familien, die Existenz der genannten besonders hart betroffenen Gruppe war ihm jedoch offenbar direkt nach Kriegsende zunächst nicht bewusst. Von ihrem Los erfuhr er erst im Februar 1949 bei einem Gespräch mit einem Offizier der UNRRA, der von Lagern in Österreich mit mehr als 60 000 Insassen berichtete. Dominique Georges Pire überzeugte sich vor Ort selbst von der Not, war erschüttert und beschloss, den Entwurzelten nach Kräften zu helfen.
 
Dem Pater kam es vor allem darauf an, nicht nur die materielle Not zu lindern, sondern den betroffenen Menschen zugleich das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht in Gettos ausgegrenzt und im Stich gelassen würden. Dazu entwickelte er zwei spezielle Formen humanitärer Hilfe: die Patenschaft und die Betreuung in dorfähnlichen Gemeinschaften. Bis 1958 gelang es Pire, rund 15 000 Spender zu finden, die jeweils ein »Patenkind« in den Lagern unterstützten, ihm also regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln und Kleidern schickten, darüber hinaus aber auch persönliche Briefe schrieben. Und bei seinen Besuchen in Lagern stellte er immer wieder fest, dass sich die Patenkinder über die Briefe noch mehr freuten als über die Pakete.
 
Bei der Hilfe für heimatlose Ausländer (L'Aide aux personnes déplacées) in den so genannten »Europadörfern« stand die Integration der Entwurzelten in die Gesellschaft des Gastlands und in eine dörfliche Gemeinschaft ebenfalls im Mittelpunkt. Ab 1956 entstanden sieben solcher Dörfer, jedes für etwa 150 Einwohner, immer in der Nähe eines Betriebs, in dem die Heimatlosen Arbeitsplätze fanden — in Deutschland beispielsweise in Aachen, Euskirchen und Augsburg/Hochzoll. Letzteres beherbergte zunächst rund 20 Familien mit über 70 Kindern aus Russland, der Ukraine, Polen, Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei. Später wurden dort vietnamesische und laotische »Boat-People«, russische Juden, türkische und kurdische Flüchtlinge aufgenommen. Seit 1999 führt die gemeinnützige Organisation Tür an Tür — miteinander wohnen und leben das 1957 gegründete Dorf.
 
 Die Welt des offenen Herzens
 
Flüchtlingslager gab es und gibt es nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in vielen anderen Ländern der Welt. Der Gedanke lag deshalb nahe, die hier gewonnenen Erfahrungen für die Betreuung »heimatloser Ausländer« in diesen Ländern zu nutzen. In seinem letzten Lebensjahrzehnt verlagerte Pater Dominique Georges Pire deshalb seine Aktivitäten zunehmend in die Länder der Dritten Welt, unabhängig von religiösen, nationalen und sprachlichen Barrieren. Die Idee der Patenschaft wurde von den Organisationen World Friendships und World Sponsorships, die Flüchtlingsfamilien in Afrika und Asien unterstützen, wieder aufgenommen. Seit Anfang der 1960er-Jahre entstanden zudem die Friedensinseln, landwirtschaftliche Siedlungen, in denen die Bewohner durch sinnvolle Unterstützung in die Lage versetzt werden sollen, sich selbst zu versorgen.
 
Mehr mit der Theorie der Friedenssicherung beschäftigt sich das nach Mahatma Gandhi, dem indischen Pionier des gewaltfreien Widerstands, benannte Internationale Friedenszentrum. Das Zentrum entstand 1960 im belgischen Huy, sechs Jahre bevor Dominique Georges Pire in dem Buch »Baut den Frieden — Wir alle sind verantwortlich« dazu aufrief, weniger Mauern, sondern mehr Brücken zwischen den Menschen zu bauen. Dass ein Friedenskämpfer im Notfall auch zu anderen Mitteln greifen kann, hatte der Dominikanerpater im Zweiten Weltkrieg bewiesen, als er in der belgischen Widerstandsbewegung aktiv war. Er gründete einen Spionagedienst und schied wie wohl kaum ein anderer Friedensnobelpreisträger mit höchsten militärischen Auszeichnungen dekoriert aus dem Kriegsdienst aus.
 
P. Göbel

Universal-Lexikon. 2012.

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